Viel hilft viel oder weniger ist mehr? Wenn es um das richtige Maß an Trainingsaufwand geht, scheiden sich noch immer die Geister. Die einen verbringen Stunden im Gym. Die anderen bringen minimalistische Einheiten in ihrer Mittagspause unter. Wer von beiden recht hat, konnte durch die Forschung noch nicht endgültig geklärt werden. Zwei Zwillingsbrüder, die Turner Twins, haben sich der Frage jetzt in einem Experiment angenommen – mit erstaunlichen Ergebnissen.
Die Bedeutung der Zwillingsforschung
Eineiige Zwillinge sind für Wissenschaften diverser Disziplinen von großem Wert. Wann immer es darum geht zu erforschen, ob unsere Gene oder die Umwelt den größeren Einfluss auf bestimmte Merkmalsausprägungen wie Erkrankungen, Übergewicht oder auch kriminelles Verhalten ausüben, bieten Zwillinge mit ihrem identischen Genmaterial die perfekten Versuchsobjekte. Schließlich lässt sich bei ihnen eine Variable, nämlich die Veranlagung, aus der Betrachtung ausklammern.
Entwickeln sich Zwillinge unter verschiedenen Lebensumständen gleich, so ist dies als Beleg für die Übermacht der Genetik zu deuten. Umgekehrt sind abweichende Entwicklungen in unterschiedlichen Umwelten so zu interpretieren, dass der Genpool keinen Einfluss auf unser Schicksal nimmt und wir aktiv unser Wohlergehen steuern können.
Die Turner Twins
Die Turner Twins Hugo und Ross Turner verbindet nicht nur der denkbar engste Verwandtschaftsgrad – sie sind auch beste Freunde. Die aus dem Südwesten Englands stammenden eineiigen Zwillinge haben sich nach einem schweren Tauchunfall 2007, bei dem Hugo nur knapp einer Lähmung entging, ganz dem Leben als Vollzeit-Abenteurer verschrieben. Bei extremen Ruder- und Segelturns, Rad- und Motorradtouren, Gipfelbesteigungen und arktischen Expeditionen vergleichen sie Bekleidung und technisches Equipment modernster und antiker Art.
Auch im Fitnesssegment sind die Turner Twins aktiv. Ihre exakte genetische Übereinstimmung erlaubt ihnen aussagekräftige Experimente, in denen sie verschiedene populäre Konzepte gegenüberstellen. So verglichen sie unter anderem den omnivoren mit dem veganen Ernährungsstil, Highcarb und Lowcarb oder das Gewichts- mit dem Bodyweight-Training.
20- vs. 40-Minuten-Training: Das Experiment
Das aktuelle Experiment der Turner Twins sollte untersuchen, wie sich eine Verdopplung der Trainingszeit auf die Trainingsresultate auswirkt.
Der Versuchszeitraum erstreckte sich über drei Monate, in denen Hugo und Ross jeweils rund 60 Trainingseinheiten durchführten, also etwa fünf pro Woche. Beide führten für 20 Minuten das gleiche Training aus. Dann beendete Hugo die Session, während Ross für weitere 20 Minuten die exakt gleiche Einheit in der gleichen Intensität und mit den gleichen Trainingsgewichten noch einmal abspulte.
Der Trainingsplan umfasste vier Übungen pro Einheit mit jeweils 14 Wiederholungen. Die Übungsauswahl ist nicht im Detail bekannt, umfasste jedoch in klassischer Manier Ganzkörperübungen wie Kreuzheben, Übungen am Kabelzug und Eigengewichtsübungen. Nach der Hälfte des Programms wurde das Programm in nicht näher benannter Form modifiziert, um den Trainierenden Abwechslung zu bieten.
Andere Variablen wie Ernährung und Regeneration wurden von den Brüdern so identisch wie möglich gehalten. Beide nahmen täglich 2.400 Kalorien zu sich, was angesichts ihres Ausgangsgewichts und ihres aktiven Lebensstils eine recht geringe Zufuhr darstellt, von der kein nennenswerter Masseaufbau zu erwarten war.
Die Ergebnisse
Dass sich mit der doppelten Trainingszeit keine Verdopplung der Kraft- und Muskelzuwächse erwarten lässt, sollte jedem klar sein. Die Turner Twins hatten jedoch auf einen etwa 10 bis 20 % stärkeren Anstieg der Leistung bei Ausführung des 40-Minuten- gegenüber dem 20-Minuten-Training spekuliert. Es kam überraschend anders.
Körpergewicht
Die Zwillinge waren mit ungefähr gleichem Gewicht in das Experiment gestartet. Hugo wog 87 Kilogramm, Ross 88,5 Kilogramm. Ihre Gewichtskurven entwickelten sich nahezu perfekt parallel. Am Ende hatte Ross mit seinem langen Training zwei Kilogramm zugelegt, Hugo ungefähr 2,5 Kilo.
Körperfettanteil
Hugo startete mit 11 % Körperfett. Nach drei Monaten 20-Minuten-Training war sein Anteil auf 17 % gestiegen. Auch Ross beendete das Experiment mit 17 %, war jedoch auch schon mit 15 % an die Startlinie gegangen.
Muskelmasse
Die Muskelmasse der Zwillinge entwickelte sich wie auch der Körperfettanteil in nahezu perfektem Gleichschritt.
Sportliche Leistungen
Die sportliche Leistungsfähigkeit der Turner Twins wurde in der maximalen Anzahl an Klimmzügen und Liegestützen, im Maximalgewicht von Bankdrücken und Kreuzheben und in der maximalen Sauerstoffaufnahme (VO2 sub max) gemessen.
Bei den Klimmzügen und im Kreuzheben fallen die Verbesserungen mit einer Wiederholung bzw. 20 Kilogramm jeweils identisch aus. Hugo konnte sich mit dem 20-Minuten-Training bei den Liegestützen von 30 auf 43 signifikant mehr steigern als sein Bruder (von 32 auf 34). Dafür konnte Ross sich im Bankdrücken von 85 auf 105 Kilogramm um 20 Kilo verbessern. Hugo brachte es „lediglich“ von 80 auf 95 Kilo.
Eine Möglichkeit, bei Klimmzügen besser zu werden
Die Grundübungen im Krafttraining, zu denen insbesondere Bankdrücken, Kniebeugen und Kreuzheben gehören, stellen bei vielen Studiogängern das Fundament des eigenen Trainingsplans dar. Der Grund dafür ist unter anderem, dass überall der gesamte Körper unter Spannung sein muss und somit verhältnismäßig große Lasten bewegt werden können. Ebenfalls nicht zu verachten ist, dass man die Technik an […]
Gravierend fällt der Unterschied bei der Sauerstoffaufnahmekapazität auf: Hier verbesserte sich Hugo mit nur 20-Minuten-Training um 8,9 %, Ross jedoch nur um 4,4 %. Sein doppelt so langes Training scheint also nur halb so effektiv für die Ausdauerleistung gewesen zu sein.
Wie aussagekräftig ist das Experiment?
Natürlich hat auch der Versuch der Turner Twins seine konzeptionellen Schwächen. Der offensichtliche: Die Stichprobengröße ist mit zwei denkbar klein. Hinzu kommt, dass die beiden 34-Jährigen mit ihren Kraftwerten und ihrer Körperkomposition als mäßig Fortgeschrittene bezeichnet werden dürfen. Wer ein totaler Anfänger oder, auf der anderen Seite des Spektrums, Elitesportler ist, auf den lassen sich die Ergebnisse kaum übertragen. Zudem war die Ausgangslage, zumindest was den Körperfettanteil (11 vs. 17 %) anbelangt, recht verschieden, sodass sich hier die Entwicklungstendenzen schwer vergleichen lassen.
Der größte Konstruktionsfehler des Versuchs liegt darin, dass Ross sein Training schlicht durch das erneute Ausführen derselben Trainingsfrequenz verdoppelt hat. Dies würde in der Praxis wohl von niemandem so gehandhabt werden.
Dennoch sollten die Ergebnisse die Verfechter epische langen Trainingseinheiten zum Nachdenken anregen.
Das größte Learning der Turner Twins: Konstanz ist immer noch der wichtigste Schlüssel zum Erfolg im Kraftsport. Und da es den meisten Menschen leichter fallen dürfte, sich langfristig regelmäßig für eine kurze Einheit zu motivieren, ist diese Form den langen Sessions, ungeachtet aller physiologischen Resultate, in dieser Hinsicht überlegen. Dass sie viele Sportler das befriedigende Gefühl „richtig was getan zu haben“ vermissen lassen wird, steht auf einem anderen Blatt.
Autorin: Ulrike Hacker | Titebild: Shutterstock