Schon seit der Mensch denken kann, hat er immer Glaubenssätze erschaffen, die sich fest in seinem Denken und Handeln widerspiegeln. Solche Dogmen entstehen nicht aus Langeweile, sondern haben einen besonderen Charakter für den Menschen. Jeder hat gewisse Grundbedürfnisse. Neben der Selbstverwirklichung oder der Anerkennung ist ein Bedürfnis, das tief im Menschen verankert ist, die Sicherheit. Genau diese Sicherheit findet man in Dogmen. So ist es auch nicht verwunderlich, dass über Jahrzehnte hinweg geglaubt wurde, die Erde sei eine Scheibe. Diese Vorstellung gab dem Menschen Sicherheit und Struktur – zumindest so lange, bis das Gegenteil bewiesen wurde.
Weil Dogmen so viel Bedeutung für den Menschen haben, findet man sie aber nicht nur auf höchster gesellschaftlicher Ebene, sondern auch in individuellen Teilbereichen des Alltags. So wird eine Welt gestaltet, in der man durch bestimmte Annahmen Sicherheit findet – auch im Bodybuilding.
Wer möchte nicht sicher sein, dass sein Training maximale Erfolge liefert? Schließlich wird man nicht aus Spaß an der Freude immer wieder an seine Grenzen gehen, es sei denn, man ist ein extremer Sadist.
Nein, die meisten Athleten stellen sich den Schmerzen im Training, weil sie auf überdurchschnittlichen Muskelaufbau hoffen. Weil sie auch die Sicherheit haben möchten, dass ihr Trainingsansatz Früchte trägt, verfolgen sie seit der Geburt des Bodybuildings ein Credo – wer Muskeln möchte, muss Kraft entwickeln.
Ist das aber wirklich so oder ist die Kraft vergleichbar mit dem Glauben an die Welt als Scheibe?
Wie stark ist stark genug?
Ohne Frage erscheint es schwierig, Gründe dafür zu finden, warum man nicht kontinuierlich versuchen sollte, seine Kraft zu steigern. Man muss jedoch immer im Hinterkopf behalten, dass das Streben nach einem gewissen Ziel immer auf Kosten eines anderen erfolgt.
Außer Frage steht, dass für 95 Prozent der Bevölkerung der Fokus auf einer ganzheitlichen Steigerung der allgemeinen Kraftleistung liegen sollte. Dieser Fokus verändert sich aber dann, wenn ein gewisses Leistungsniveau im Studio erreicht worden ist und man auf mehrere Jahre an Trainingserfahrung zurückblicken kann.
Irgendwann hat sich der Glaube manifestiert, dass stark zu sein nicht ausreichend ist und deshalb immer gezielt daran gearbeitet werden muss, noch stärker zu werden. Über einen langen Zeitraum hat sich dieser Ansatz in den Köpfen festgesetzt, sollte nach heutigem Wissensstand aber zumindest kritisch hinterfragt werden.
Stark werden und stark bleiben
Um dieser Aussage folgen zu können, muss etwas tiefer gegraben werden. Wenn man ein unerfahrener Frischling ist und bisher kein Fundament gebildet hat, ergibt es durchaus Sinn, den Fokus auf persönliche Rekorde zu legen und kontinuierlich stärker zu werden.
Was aber erkannt werden muss ist, dass fortgeschrittene Athleten eher darauf bedacht sein sollten, ihren entwickelten Leistungsstand dauerhaft zu halten. Ein 200 Kilogramm Deadlift wird beim spezifischen Ziel Muskelaufbau nicht viel zweckmäßiger sein als ein Deadlift mit 150 Kilogramm.
Die Frage, die man sich stellen muss, ist also: Wie stark ist stark genug?
Neue Ziele
Bevor man nun dem Glauben verfällt, dass dieser Artikel eine Ausrede dafür ist, um nur noch mit leichten Gewichten zu spielen – das ist eine Falschannahme. Kraft und das Training mit schweren Gewichten werden aber oft auf einer eindimensionalen Ebene betrachtet.
Ein Athlet, der mehr Gewicht in einer bestimmten Übung bewegt als ein anderer, wird im Normalfall als stärker bezeichnet. Selten wird dabei darauf geachtet, wie die Übung ausgeführt wurde.
Hat der vermeintlich stärkere Athlet vielleicht mit schlechter Technik gearbeitet? Wurde nur eine Wiederholung unter Mühe und Not absolviert, während der vermeintlich schwächere zwei bis drei Wiederholungen mit perfekter Form abliefern konnte?
Wenn man über Stärke spricht, ist es unumgänglich zu hinterfragen, was wahre Stärke wirklich ausmacht. Wahre Stärke wird nicht durch das reine Gewicht auf der Langhantel definiert, sondern durch die Qualität der einzelnen Wiederholungen im submaximalen Bereich. Wer weniger Gewicht mit einer perfekten Technik bewegt, profitiert mehr davon, als von einem schwammigen Rekord mit Maximalgewichten.
Zurecht fragt man sich jetzt, welche Ziele verfolgt werden sollten, wenn nicht das maximale Gewicht im Fokus der Anstrengungen eines motivierten Athleten steht, oder?
Exzentrisches Training
Ein Zahnrad, an dem man drehen kann, ist das exzentrische Training. Wer seine Wiederholungen in der exzentrischen Phase einer Wiederholung verlangsamt, profitiert von zusätzlicher Energie, einer erhöhten Time-Under-Tension und – was wohl am wichtigsten ist – einer größeren Erschöpfung der Fast-Twitch-Muskelfasern.
Werden mehr schnellzuckende Muskelfasern erschöpft, endet das erfahrungsgemäß in einer besseren Muskel- und Kraftentwicklung. Für den Anfang ist es empfehlenswert, die exzentrische Phase auf vier Sekunden pro Wiederholung auszudehnen. Wer das Ganze auf die Spitze treiben möchte, vernachlässigt die konzentrische Phase komplett und fokussiert sich nur auf die Negative.
Paused Reps
Wer wirklich seine wahre Stärke unter Beweis stellen möchte, arbeitet mit pausierten Wiederholungen. Wie der Name bereits vermuten lässt, wird bei jeder Wiederholung eine Pause in einer fest definierten Position gemacht.
Diese Methode entfernt jede Möglichkeit eines Kraftübertrags und lässt leichte Gewichte plötzlich wahnsinnig schwer werden. Athleten, die auf der Bank, bei der Beuge oder auch bei Klimmzügen Paused Reps integrieren, werden ihr Training auf ein komplett neues Level heben.
Natürlich wird die Anzahl der Wiederholungen oder das Gewicht auf der Hantel extrem nach unten korrigiert werden müssen – aber wen interessiert das? Wir suchen nach einem Trainingsansatz, um möglichst viele Muskeln aufzubauen und unsere Gesundheit zu optimieren. Das Ego spielt bei diesen Zielen nur eine untergeordnete Rolle.
Hypertrophie-Training
Zu guter Letzt muss angemerkt werden, dass Krafttraining oft überbewertet wird, wenn es nicht zielgerecht angewendet wird. In der Einleitung wurde bereits erwähnt, dass es für den Durchschnittsbürger wohl kaum etwas Sinnvolleres gibt, als sich auf die ganzheitliche Kraftentwicklung zu konzentrieren. Aber stark zu werden und zu bleiben bedeutet nicht automatisch, dass man auch kontinuierlich in Form ist.
Das Krafttraining hat einen Übertrag auf viele andere Bereiche. So muss man sich durchaus eingestehen, dass hohe Kraftwerte immer im Zielkonflikt mit der allgemeinen Verfassung und der kardiovaskulären Gesundheit stehen.
Man kann die stärksten Knochen dieser Welt haben, gleichzeitig aber trotzdem an einer Herzattacke im Alter von 40 Jahren sterben, nur weil man eine schlechte kardiovaskuläre Gesundheit hat.
Legt man den Fokus aber auf höhere Wiederholungszahlen im Studio, fördert man damit nicht nur seine Körperkomposition, sondern trägt zusätzlich dazu bei, dass Muskelwachstum und Herzgesundheit profitieren.
Zusätzlich verringert man mit moderaten Wiederholungszahlen auch das Risiko einer Verletzung – eine Win-Win-Situation, bei der man ganz nebenbei auch nicht mit Krafteinbußen rechnen muss.
Die Scheuklappen abzunehmen und einen neuen Blickwinkel auf die Kraftentwicklung zu riskieren, wird für die meisten Athleten in einem positiven Übertrag auf das eigene Training münden. Nicht nur, weil das Verletzungsrisiko verringert oder die Gesundheit verbessert wird, sondern auch, weil man sich gedanklich vom Dogma der extrem hohen Kraftwerte lösen kann. Wenn man nicht gerade ein Strongman mit Titelambitionen ist, müssen keine tonnenschweren Gewichte bewegt werden.
Quelle: muscleandstrength.com/articles/how-strong-is-strong-enough